Solche Auffälligkeiten führen zu wechselseitiger Eskalation, solange der Hintergrund nicht bekannt ist.
Enes stammt aus einer jener „geduldeten“ Familien, die jahrelang von Abschiebung bedroht waren. Während dieser Zeit wurden weitere Kinder geboren. Diese wie auch die Kinder mit eigenen traumatischen Erfahrungen sind emotional an Deutschland als Heimat gebunden und haben hier ihre sozialen Bezüge. Die meisten sind gut integriert und erfolgreich in der Schule.
Traumatisierung der Eltern und Geschwister kommen auch bei den in Deutschland geborenen Kindern zum Tragen. Nicht selten sind die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz geschwächt, können die Kinder nicht schützen und reagieren auf deren Angst mit eigener Panik. Kinder können „parentifizieren“, Verantwortung für die Eltern übernehmen, was sie zusätzlich überfordert. Die ständig drohende, oft ohne Ankündigung nachts vollzogene Abschiebung lässt sie bei jedem Geräusch hochschrecken. Als der Klassenkamerad eines dieser Kinder klingelte, um den Freund abzuholen, geriet die Familie in Panik und versteckte sich. Reaktivierte Bedrohung und aktuelle Gefährdung verstärken sich gegenseitig. Auch das soziale Umfeld ist betroffen. Kinder werden aus der Klassengemeinschaft herausgerissen – unvorbereitet und ohne die Möglichkeit einer Verabschiedung. Schüler einer Gesamtschule, aus deren Klasse eine Schülerin abgeschoben wurde, schrieben an ihre Regierungspräsidentin: „Langsam bekommen wir Angst vor diesem Staat, der für uns immer Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Würde des Menschen gewährleistet hat“ (FR 5./6. 4. 2007).

Aktuelle Situation – der Kompromiss
zum Bleiberecht entpuppt sich als gnadenloses „Survival of the fittest“.


Die neue Bleiberechtsregelung gewährt Familien, die seit sechs Jahren in Deutschland leben (bei Alleinerziehenden seit acht Jahren),eine Aufenthaltserlaubnis
bis Ende 2009. Dauerhaft können sie nur bleiben, wenn sie eine ihren Unterhalt sichernde Arbeitsstelle nachweisen, bei der sie bereits mehrere Monate tätig sind und die auch in Zukunft sicher ist. Bis dahin besteht nur Anspruch auf eine um 30% gekürzte Sozialhilfe, auch nicht auf Elterngeld und Familiennachzug. Alte, Kranke und Erwerbsunfähige – und damit auch deren Kinder! – sollen nur dann bleiben dürfen, wenn jemand die gesamten Kosten für ihren Lebensunterhalt übernimmt. Minderjährige, die seit Jahren die Schule besuchen, können ein Bleiberecht erhalten, wenn sie ohne Angehörige hier leben oder wenn ihre ausreisepflichtigen Eltern bereit sind, Deutschland zu verlassen. Um Arbeit zu bekommen, muss zudem eine Aufenthaltserlaubnis vorliegen, die nicht selten erst erkämpft werden muss. In Einzelfällen wurde eine bereits bestehende Arbeitserlaubnis erneut entzogen. Für die Kinder folgt daraus, dass die auch von der Bundesrepublik unterschriebene UN-Kinderrechts-Konvention, welche den Vorrang des Kindeswohl „ohne jede Diskriminierung“ festlegt, verletzt wird. Von den rund 180000 Betroffenen können nach Schätzung von Innenexperten der Union nur etwa 30–40000 bei dieser Regelung einen sicheren Daueraufenthalt bekommen. Mit entwaffnendem Zynismus spricht der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Hans-Peter
Uhl von „großem Abschiebepotential“ (Frankfurter Rundschau v. 22. 03.07.).
Was bedeutet diese Situation für den Kinder- und Jugendarzt?
Diagnostisch geht es zunächst darum, hinter den im einzelnen unspezifischen Symptomen ein Syndrom „Kinder in Abschiebung“ zu vermuten.
Zur Symptomatik können gehören:
• Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen mit Lernproblemen;
• Ess- und Schlafprobleme, Albträume, Zittern und plötzliches Weinen;
• Selbststimulation (Stuhlschaukel, Kopfanschlagen, Tics);
• Scheinbares Fehlen von Wünschen und Gefühlen;
• Kopf-, Bauch-, Herzschmerzen;
• Gefühle von Einsamkeit, Inakzeptanz, Hilflosigkeit, Isolierung;
• Schuld-, Angst- und Schamgefühle;
• Altersunangemessene Abhängigkeit von den Eltern, teilweise vorzeitige Autonomie;
• Übermäßige Wachsamkeit in ständiger Erwartung einer Gefahr, Misstrauen, reaktive Aggressionen;
• Verringertes Interesse an alltäglichen Aktivitäten.
Abb. 1: Schüler einer 1. Klasse thematisieren Abschiebung
Welche Rolle kann der Kinder- und Jugendarzt spielen, welche Hilfen kann er geben?
Neben der ärztlichen Betreuung kann er als Vertrauensperson Einblick in manche aus Angst und Scham verschwiegenen, aber für angemessene Hilfen bedeutsamen Hintergründe erhalten und damit Sozial- und Jugendämtern wie auch Schulen gegenüber vermitteln.
Unterstützung bei Problemen der Kostenübernahme, welche notwendige Psychotherapien und gelegentlich sogar die gesundheitliche Versorgung verhindern, kann erforderlich werden. Geduldete Familien haben keinen Anspruch auf Kindergeld, Erziehungsgeld oder Unterhaltsvorschuss. Auch die Kostenübernahme für ärztliche Leistungen unterliegt der Bewilligung durch das Sozialamt und damit einer zusätzlichen Hürde – auch im Hinblick darauf, dass beim Kontakt mit Behörden immer die Angst vor der Abschiebung mitschwingt und dieser Kontakt daher nach Möglichkeit vermieden wird. Dies führt gelegentlich zu Mängeln bei der Gesundheitsversorgung. So wurde ein Mädchen schwerhörig, weil die Behandlung einer Mittelohrentzündung unterblieb; ein Junge kam in die Sonderschule, weil er wegen Fehlsichtigkeit nicht von der Tafel abschreibenkonnte. In „geduldeten“ Familien leiden 60% der Kinder unter behandlungsbedürftigen psychischen Störungen (Deutsches Ärzteblatt 2007,104, S.1515).
Bei der Komplexität der Probleme mag der Eindruck entstehen, dass psychotherapeutische Maßnahmen kaum erfolgreich sind. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Psychotherapie auch unter diesen Bedingungen wirksam werden kann. Die Verhaltensauffälligkeiten von Enes wie auch von anderen Kindern mit ähnlicher Symptomatik konnten durch eine Psychotherapie und die begleitende Vermittlungs- und Elternarbeit bei der auf Probleme von Flüchtlingen spezialisierten Organisation „Lahor“ in Frankfurt/M. wesentlich gebessert werden.
Der jetzt ausgehandelte Kompromiss verschiebt die Probleme, deren Lösung er verheißt. Sollen ab Ende 2009 tatsächlich 140 000–150 000 Menschen, die dann bis annähernd 20 Jahre in Deutschland leben, abgeschoben werden? Alle, die mit Kindern und Familien arbeiten, werden öffentlich Position beziehen müssen. Den Kinder- und Jugendärzten kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.

Marija Keskic, Ma.Ph.
Koordiniert und leitet das Projekt für traumatisierte Kinder und Jugendliche
beim Verein „Lahor“
Diemelstr. 9
60486 Frankfurt/M.
Tel. 069 / 63 198 000 E-Mail: info@lahor.de

Hans von Lüpke, Dr. med. Kinderarzt und Psychotherapeut
Glauburgstr. 66
60318 Frankfurt/M.
Tel. 069 / 5970731
E-Mail: hans.von.luepke@gmx.de
Red.: ge